Im Rahmen unseres Deutschunterrichts haben wir das Drama "Maria Stuart" von Friedrich Schiller gelesen und besprochen. In diesem um 1800 entstandenen Werk geht es um die letzten Tage der schottischen Königin Maria Stuart, die in Gefangenschaft auf ihre Hinrichtung wartet. Wir haben uns mit verschiedenen Themen wie der Frage nach der Legitimität von Macht, dem Einfluss Marias auf die Männer und dem Ideal der "schönen Seele" auseinandergesetzt. Von allen behandelten Themen hat mich das Ideal der "schönen Seele" am meisten angesprochen. In diesem Blogartikel möchte ich mich daher näher mit diesem Ideal auseinandersetzen und untersuchen, ob Maria Stuart am Ende tatsächlich als schöne Seele bezeichnet werden kann und ob dieses Ideal auch in der heutigen Zeit noch existiert.
Schillers Ideal beschreibt das Ziel der menschlichen Entwicklung: Gefühl (Neigung) und Vernunft (Pflicht) sollen miteinander in Einklang gebracht werden. Schiller beschreibt diesen Zustand wie folgt:
«Eine schöne Seele nennt man es, wenn sich das sittliche Gefühl aller Empfindungen des Menschen endlich bis zu dem Grad versichert hat, dass es dem Affekt die Leitung des Willens ohne Scheu überlassen darf und nie Gefahr läuft, mit den Entscheidungen desselben im Widerspruch zu stehen. Daher sind bei einer schönen Seele die einzelnen Handlungen eigentlich nicht sittlich, sondern der ganze Charakter ist es.»
Schiller zur schönen Seele; aus: Ueber Anmuth und Würde (1793)
Wenn dieser Zustand erreicht ist, spricht Schiller von einer schönen Seele, also von einem Menschen, der mit sich selbst im Reinen ist. Der Mensch handelt nicht mehr aus Zwang, sondern aus innerer Überzeugung. Eine schöne Seele ist also jemand, bei dem Charakter und Handlung in einem harmonischen Gleichgewicht stehen.
Maria und Elisabeth sind beide Königinnen, doch wer kann und darf über England herrschen? Schon vom Anfang der Geschichte an ist Maria in Elisabeths Gefangenschaft. Am Ende wird sie hingerichtet, doch ihr Weg dorthin ist entscheidend. Ist jetzt nun Maria als schöne Seele gestorben? Sie erkennt die Konsequenzen ihres früheren Handelns, übernimmt Verantwortung und findet schliesslich inneren Frieden. Sie versöhnt sich mit ihrer Vergangenheit und akzeptiert ihr Schicksal. Maria hat Frieden zwischen der Rolle als Frau und der Rolle als Königin geschlossen und ist somit im Reinen. Die "Pflichtseite" ihres Königinnen-Daseins hat sie somit hinter sich gelassen. Sie ist als Frau mit einer schönen Seele und nicht als Königin gestorben. Im Gegensatz zu Maria bleibt Elisabeth bis zum Schluss rational, politisch und machtbewusst. Sie entscheidet sich für ihre politische Pflicht als Königin, zeigt aber kaum persönliche Entwicklung. Sie bleibt eine Königin, die von aussen, dem Volk und anderen, gesteuert wird. Pflicht und Neigung stimmen bei ihr nicht überein.
In der modernen Gesellschaft sprechen wir zwar nicht mehr direkt von der schönen Seele, doch ich finde, dass sich ähnliche Vorstellungen in Begriffen wie Authentizität, Integrität und Selbstverwirklichung befinden. Ich möchte nun erläutern, wie ich die Begriffe verstehe und wie sie das Ideal der schönen Seele widerspiegeln. Authentizität bedeutet für mich, wenn man sich nicht für andere verstellt und genau so ist, wie man ist. Eine Person bleibt sich gegenüber treu und ist im Einklang mit seinen eigenen Überzeugungen und Gefühlen. Dieses Ideal passt gut zu Schillers Vorstellung, dass der Mensch aus innerer Überzeugung handelt und nicht aus äusserem Zwang. Integrität verstehe ich als Fähigkeit, nach den eigenen moralischen Werten zu leben und zu handeln. Ein integrer Mensch tut das Richtige nicht, weil er dazu gezwungen wird, sondern weil er davon überzeugt ist, das Richtige zu tun. Dadurch stimmen Pflicht und persönliche Neigung überein, ähnlich wie bei Schillers schöner Seele, bei der das moralische Handeln wie selbstverständlich passiert. Selbstverwirklichung schliesslich bedeutet für mich das Streben danach, die eigene Persönlichkeit frei zu entfalten und das eigene Potenzial auszuleben. Auch das steht in enger Verbindung zu Schillers Menschenbild, das auf Entwicklung und inneres Wachstum abzielt. Abschliessend finde ich, dass dieses Ideal immer noch etwas ist, wonach wir streben sollten. Gerade in einer Welt, in der oft äusserer Druck und Erwartungen bestimmen, wie wir handeln, bleibt die schöne Seele ein gutes Vorbild für echtes, menschliches Handeln aus eigener Überzeugung.
Schulunterrichtsmaterial: Weimarer Klassik, Literarische Programmatik
Friedrich Schiller (2004): Maria Stuart. Text und Kommentar. Kommentiert von Wilhelm Grosse. Suhrkamp.